Nur wenige Schritte braucht es, um aus dem Lärm und Staub einer der Hauptverkehrsachsen der Nürnberger Südstadt herauszutreten und einzutreten in einen Gewürzladen, wie er ebenso in einem der Suqs von Baghdad stehen könnte. Inhaber Atef Diwan empfängt die Gruppe und nimmt sie mit auf eine Erkundung mit allen Sinnen. Rosenblüten und getrocknete Zitronen, Kardamom und Chillis: das ganze Spektrum der Aromen dürfen die Besucher probieren. Gläser bis unter die Decke, Rohgewürze noch ungemahlen, bunte Hügel aus Gewürzmischungen in Gelb-,Rot- und Brauntönen: Stolz erklärt Herr Diwan, dass er diesen Laden genauso gestaltet hat, wie jenen, den seine Familie in Baghdad hatte. Seit Generationen gehörten Gewürze zu seiner Familie und auch er sei damit einfach aufgewachsen. Die Familie gehört zur religiösen Gemeinschaft der Mandäer, einer uralten vor allem im äußersten Südirak beheimateten Religion, die mit dem Erstarken radikal-islamischer Strömungen verstärkt Verfolgung, ja Lebensgefahr ausgesetzt war und ist. Durch Flucht und Neuanfänge hindurch ist es umso erstaunlicher, dass dieser Laden mit seinen eine lebendige Verbindung zwischen Herkunft und Zukunft. Seit 12 Jahren lebt die Familie in Deutschland. Ausgestattet mit Gewürzen für viele Kochsessions verlassen wir nach einer Stunde den Laden und gehen hinüber ins Gemeindehaus von St.Ludwig gleich um die Ecke. Wir lassen die Eindrücke des Besuchs nachklingen und laden zum Gespräch ein.
„Das Leben versüßen…, verbittert sein…, sauer werden…., jemandem die Suppe versalzen….“ Viele Redewendungen verbinden sich mit dem Geschmacksinn. Er ist nicht wegzudenken aus unserer Begegnung mit der Welt. Gewürze begleiten unser Leben, beginnend mit der Süße der Muttermilch.
Auch unabhängig davon, ob ein Gewürzladen wie dieser, „Türöffner“ sein kann, eignen sich Gewürze, um niederschwellig und ganzheitlich in biographisches Erzählen mit interreligiösen Bezügen hineinzuführen.
Viele Menschen haben Lieblingsgewürze oder auch explizite Abneigung gegen bestimmte Geschmacksrichtungen. Ähnlich wie Düfte erreichen Geschmäcker unmittelbar unser Gehirn und lösen hier mitunter sehr starke „Geschmackserinnerungen“ aus: Ein Teilnehmender erzählt vom Zimt, der ihm stets die Schüssel mit Griesbrei bei der Großmutter gegenwärtig werden lässt, ein älterer Teilnehmer von der ersten Banane seines Lebens. Manche Geschmacksvorlieben, wie etwas für Bitteres, entwickeln sich mit der Zeit: das Leben ist Veränderung. Wir lachen gemeinsam darüber, dass „Schärfe“ offiziell nicht als Geschmacksrichtung sondern als „Grad von Schmerz“ eingestuft wird, wie eine Teilnehmende erzählt.
Es ist spannend, unbeschriftete Gläschen mit Gewürzen in der Gruppe herumgehen zu lassen, schweigend zu kosten und sich dann auszutauschen. Der Besuch im Gewürzladen lässt uns unmittelbar erkennen, dass Gewürze Teil einer von Migration und Globalisierung geprägten Welt sind. Handelsstädte wie Nürnberg kochten und buken schon im Mittelalter zu besonderen Anlässen mit orientalischen Gewürzen. Die Lebkuchengewürze von Anis bis Zimt zeugen bis heute davon. Das Gespräch unter den Teilnehmenden zeigen gleichzeitig auch, wie sich in den letzten Jahrzehnten mit der Öffnung unserer Gesellschaft der Gebrauch von Gewürzen vervielfältigte. Im Austausch ihrer „Gewürzgeschichten“ erlebten sich Teilnehmenden der Gruppe dieses Abends, unter ihnen Christen, Muslime, Buddhisten und spirituelle Agnostiker, selbst und gemeinsam als Teil einer Welt in Werden und Veränderung.
Eindrücklich bleibt das Foto des alten Gewürzladens in Bagdad, den Atef Diwan nun hier in Nürnberg wiedererstehen ließ. Es steht in meiner Wahrnehmung trotz aller Brüche und tiefgreifender Veränderungen für ein sinnhaftes Leben. Diese Frage war es, die wir mit dem Titel des Abends aufgreifen wollten: „Was meinem Leben Geschmack gibt?“ Es kommt wohl auf die richtige Mischung an und manchmal auch auf den Mut neue Gewürze auszuprobieren.